The Stroke – Erlebnisse mit dem Schlaganfall
24. Oktober 2014 | von Alexander Mayer | Kategorie: VermischtesWas hat Fürth mit Sydney in Australien gemeinsam? Wenig, aus bestimmter Perspektive aber auch wieder einiges. Viele Aspekte hat Fürth in der globalisierten Welt nicht nur mit Sydney, sondern mit vielen anderen Städten der industrialisierten Welt gemeinsam. Unter anderem zweierlei. Erstens: Es gibt da wie dort zahlreiche Fans der Band AC/DC. Zweitens: »The Stroke«, der Schlaganfall, gehört zu den weitverbreitesten Krankheiten und ist die häufigste Ursache für mittlere und schwere Behinderungen der Mitmenschen. Jüngst fiel aus subjektiver Perspektive beides schicksalhaft zusammen, was den Anlass für die folgende Darstellung ergab.
Jeder kennt die »Riffs« des prominenten Opfers aus Sydney, seine markanten Akkordfolgen auf der Gitarre. Zu den Klängen seiner Gitarre lief sogar der einstmalige CSU-Hoffnungsträger Karl-Theodor von Guttenberg bei Parteiveranstaltungen ein, 150 Millionen Tonträger verkaufte die Band, nach eigenen Angaben sogar 200 Millionen. Und nun? Malcolm Young erlitt mit 61 Jahren einen Schlaganfall, die Welt verliert einen »genialen Rhythmusgitarristen«, so die Süddeutsche Zeitung, die weiter schreibt: »Die meisten Riffs für die Ewigkeit hat Malcolm Young erschaffen. Keine andere Band ist innerhalb von drei Sekunden so todsicher erkennbar wie AC/DC«. – Der Stroke hat die Riffs der Ewigkeit hinweggefegt, Malcom Young kann sich an seine Riffs nicht mehr erinnern, er kann keine Gitarre mehr spielen.
Herbst in Fürth
Ein Herbsttag im November 2007: Der Mann wankt, ihm ist schwindelig, er fällt in der eigenen Wohnung fast um. Kein Grund zur Sorge meint er selbst, der von der Ehefrau hinzugerufene Arzt meint jedoch: »Sofort ins Krankenhaus«. Er packt seinen Koffer, trägt ihn zum Auto, lässt sich in die Klinik fahren, steigt aus, geht mit seinem Koffer in die Aufnahme. Einen Tag später. Er liegt im Bett, »zur genauen Beobachtung« auf der Intensivstation. Die beunruhigten Verwandten kommen zu Besuch: Auf Berührungen und leichtes Schütteln reagiert er nicht, schläft scheinbar, lässt sich aber nicht aufwecken.
Anfrage bei den Wachhabenden auf der Station: »Warum lässt er sich nicht aufwecken?« Einer der dort Anwesenden antwortet: »Er ist halt müde«. Die anderen hören zu, schweigen aber. Die Besucher rätseln, hat er vielleicht Beruhigungstabletten bekommen oder Schlafmittel? Etwas verunsichert verlassen die Besucher die Klinik, aber: Wo kann der Mann besser aufgehoben sein als hier?
Wie später zu erfahren war, nahm kurz nach diesem Besuch ein vom Klinikum am Europakanal (Bezirkskliniken Mittelfranken) »ausgeliehener« Arzt den Dienst auf. Zwei Stunden nach dem Besuch klingelt bei der Ehefrau des Mannes das Telefon, am Apparat der Arzt vom Europakanal: »Ihr Mann liegt im Koma, ein Schlaganfall in der nahezu schwersten möglichen Form, kommen Sie sofort«. Die nächsten Verwandten sind innerhalb von 20 Minuten vor Ort, der Arzt legt den Anwesenden dar: Schwerer Schlaganfall, vermutlich einzige Chance die sogenannte Lyse, auch nicht ohne Risiko, aber 70 Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit bei der Anwendung, heißt es. Über das Danach verliert er kein Wort. Die Verwandten stimmen zu, der Mann überlebt. Der Arztbrief gleicht einer Horrorliste: großer Mediainsult li. bei multiplen Stenose der A. carotis interna li. mit Hemiparese re., Dysarthrie, Dysphagie, Neglect etc. etc. etc. Er kann weder sprechen noch laufen, nur noch einen Arm bewegen, viele andere Selbstverständlichkeiten sind ihm unmöglich.
Schwarze Schafe beim Pflegedienst
Nach zwei Rehabilitationsversuchen kann er nach einigen Monaten immerhin wieder teilweise selbständig essen und schlucken, aber die Kommunikation bleibt stark eingeschränkt. Rang 5 in der sogenannten »Modifizierten Rankin-Skala« für Schlaganfall, zunächst Pflegestufe 2, später 3. Die Pflege übernimmt die Ehefrau, selbst Mitte 70. Ein ambulanter Hilfsdienst wird gesucht.
Die Wahl fällt auf einen privaten Anbieter vor Ort, der sich schon durch seinen Namen empfiehlt. Die Chefin selbst erscheint im Haus und sieht sich sehr genau um. Weniger das Krankenzimmer als das Wohnzimmer wird taxiert, das mit den alten Gemälden und den Stilmöbeln den Eindruck von Wohlstand erweckt. Sie werde die Pflegeleistungen so verrechnen, dass nur wenig Zuzahlung für den Pflegedienst notwendig ist, erklärt sie. Zunächst rechnet sie für den April 2008 vor, wie es angeblich korrekt sei, das würde eine Zuzahlung von 2.522 Euro erfordern. Sie versieht theatralisch diese Rechnung mit einem »Storno« quer über die Seite, und dann macht sie vor, wie sie es zum Vorteil des Patienten und der Ehefrau berechnet: lediglich gut 1.251 Euro Zuzahlung, wenn mit pauschalen Minutensätzen gerechnet werde. Da es an der Pflege an sich nichts auszusetzen gibt, fällt die Familie einige Monate auf den Schein herein. Durch die Präsentationen der Pflegedienst-Chefin misstrauisch geworden, wechselt man aber dann doch zur ambulante Pflege eines kirchlichen Trägers. Die Verwunderung ist groß, als es die Diakonie erstens besser macht und zweitens ohne Mühe mit dem Pflegegeld nahezu auskommt (damals 921 Euro), keine oder nur geringe Zuzahlungen werden fällig. Wo sind beim privaten Dienst die 1200 Euro mehr hingeflossen? Wohl kaum in den Lohn der Pflegekräfte.
»Nicht indiziert«
Zwei Jahre später: Ein Mann steht am Bahnhof und fällt um. Im Klinikum wird zunächst ein leichter Schlaganfall diagnostiziert. Nach zwei Tagen im Krankenhaus kommt ein Anruf, am Apparat eine junge Frau, die sich zwar nicht als Ärztin vorstellt, aber wohl eine ist und sich später als solche zu erkennen gibt: Es habe sich in der Klinik in der vergangenen Nacht ein »schweres Ereignis« zugetragen, ein weiterer Schlaganfall, der auch das Atemzentrum des Gehirns getroffen habe. Da nachts kein Neurologe da war, sei der Notarzt gerufen worden und der habe den Patienten an die künstliche Beatmung gelegt. Das sei bei einem solchen Schlaganfall aber überhaupt nicht angezeigt. – Der Angerufene als Laie wundert sich über diese Geschichte, hört aber natürlich weiter zu: Der Betroffene habe den Angerufenen in der Patientenverfügung angegeben. Könne man die künstliche Beatmung ausschalten? – Der Angerufene meint, da möchte er nun doch erst einmal in die Klinik kommen. »Ja, aber bitte schnell ...« heißt es am anderen Ende der Leitung, der Satz bleibt in der Luft hängen, wird irgendwie nicht zu Ende gesprochen.
Durch unvorhergesehene Umstände in Form eines Unfalls verzögert sich der Besuch um einige Stunden. Es wird wieder angerufen, dieses Mal ein Pfleger, aber wieder die gleiche Frage, könne die Beatmungsmaschine jetzt ausgeschalten werden? Endlich erreichen der Angerufene, ein weiterer Verwandter und eine Freundin die Intensivstation, wo der Getroffene liegt. Zunächst wird der einzige sonstige Anwesende, ein Pfleger, zum Anruf befragt: »Was ist, wenn die Beatmung abgeschalten wird und er stirbt?« – Der Pfleger scheint durchaus informiert über den konkreten Fall zu sein, es erfolgt eine interpretierbare Antwort, die vielleicht mit einem »Dann soll es halt so sein« übersetzt werden könnte. Aber er wolle die Ärztin suchen, die den ersten Anruf getätigt habe. Die erklärt wiederum sehr intensiv und mit Nachdruck, dass bei diesem Krankheitsbild die künstliche Beatmung überhaupt »nicht indiziert« sei. Abgesehen davon ergebe sich bei der Schwere des »Vorfalls« eine Genesungschance nur dann, wenn der Betroffene eigenständig weiteratmen könne. Nur dann könne überhaupt an eine vorsichtige Rehabilitation gedacht werden.
Die beiden Verwandten und die Freundin sind überfordert, beraten sich und geben dann irgendwann dem Drängen der Assistenzärztin nach, ein anderer Arzt erscheint nicht. Als sie sich unbeobachtet glaubt, lächelt sie zufrieden in sich hinein. Warum? Der Patient dagegen öffnet mit Mühe immerhin die Lider, zunächst weiten sich bei der Erklärung erschrocken die Pupillen, dann aber scheint er mit den Augen zu nicken. Ein hoffnungsloser Pflegefall wolle er nie werden, hat er in der Vergangenheit immer betont – aber wer kann wissen, wann die Hoffnung vorbei ist? Wohl nur ein Arzt, denken die Angehörigen. Ein Pfleger schaltet das Atemgerät aus, die Angehörigen feuern den Mann an: atme, atme ... Nach gefühlten fünf Minuten ist der Patient tot.
Durch eine Verwechslung bekommt später einer der Anwesenden den Arztbrief nach Hause geschickt: raumfordender Kleinhirninfarkt rechts, Hirnstammkompression, Infarzierung im Bereich des Hirnstammes, persistierend starke autonome Regulationsstörungen mit Hypotonie und zentraler Atemstörung etc. etc. etc. Und dann der Satz, der auch nach fünf Jahren noch nachhallt: »Angesichts der äußerst ungünstigen Prognose und gemäß dem geäußerten Patientenwillen entschieden wir uns im Einvernehmen mit den Angehörigen gegen eine weitere Eskalation der intensivmedizinischen Maßnahmen.« – Eskalation? – Abschließend: »Herr ... verstarb am ... um ... im zentralen Regulationsversagen. Wir bedauern, Ihnen keine erfreulichere Mitteilung machen zu können und verbleiben mit freundlichen kollegialen Grüßen Professor Dr. ... (Unterschrift), Oberarzt Dr. ... (Unterschrift), Assistenzärztin ... (ohne Unterschrift).«
Ein Wunder in der Südstadt
Der Patient mit dem Schlaganfall im Jahre 2007 lebt dagegen heute noch. Der inzwischen 88-jährige wird von seiner 80-jährigen Frau und dem ambulanten Pflegedienst der Diakonie gepflegt. Eine ganz andere Situation als im Pflegeheim, jeder mutmaßt, dass er dort mit Sicherheit keine sieben Jahre weitergelebt hätte. Eine Besserung hat sich in den sieben Jahren jedoch nicht eingestellt, eher Verschlechterungen, wenn auch nur geringfügige. Ein Leiden am oder Hadern mit dem Schicksal kann jedoch von keinem Beobachter ausgemacht werden. Der unbedingte Lebenswillen tut das Übrige. Die Schattenseite: trotz vielfältiger Unterstützung ist die Ehefrau an der Grenze ihrer Leistungsfähgikeit.
Selbstverständlichkeiten werden immer schwieriger, aber auch die Umwelt ist schwierig – wenn er z.B. eine Zahnarztbehandlung braucht, die nicht mit einem Hausbesuch erledigt werden kann. Bei der entsprechenden Station an der Uni-Klink in Erlangen geht auch nach dem 10. Anruf niemand an das Telefon, hiesige Kliniken lehnen es mal explizit, mal implizit ab, bei einem 88-jährigen Hilflosen eine umfangreiche Zahnbehandlung vorzunehmen. Aber manchmal geschehen auch Wunder, selbst in Fürth. Nach langer Recherche fand sich in der Fürther Südstadt ein niedergelassener Zahnarzt, der die Behandlung vornahm (»Das muss doch auch jemand machen«, meinte Dr. Dr. W. sehr richtig).
The show must go on
Im September 2014 gab AC/DC bekannt, dass Malcolm Young aufgrund des Schlaganfalls die Band endgültig verlassen müsse. Gleichzeitig wurde die Veröffentlichung eines neuen Albums bekannt gegeben, Malcolm Youngs Neffe Stephie Young übernimmt die Rhythmusgitarre. Titel der neuen CD: »Rock or Bust«. Mehrdeutig, aber ich übersetze das mal mit: »Spiele Rock oder geh´ kaputt«.
»Die akutstationäre Versorgung von Schlaganfallpatienten in Deutschland ist ... sehr gut.« – Zumindest laut aktueller Ausgabe des Deutschen Ärzteblattes (Fachartikel »Qualität der Behandlung des akuten Schlaganfalls« – online).
»Die Zahlen sind besser als die Lage« (OB Jung zum Klinikum in den FN)
FN: Bundesminister Christian Schmidt gegen ärztliche Sterbehilfe.
Übersicht zu den Artikeln in der Süddeutschen Zeitung zum Thema Sterbehilfe
Und wieder hat »The Stroke« in Fürth zugeschlagen: Roland Martin. Immer freundlich, immer kompetent, immer fair, immer für einen guten Rat zu haben....