»Eu­ro­pa ist kein Traum­land«

2. Oktober 2014 | von | Kategorie: Politik

In ei­nem Ki­no­saal be­rühr­ten am Frei­tag­abend Flücht­lin­ge und So­zi­al­ar­bei­ter das Pu­bli­kum mit ei­nem au­then­ti­schen Ein­blick in ei­ne iso­lier­te Le­bens­welt – erst auf der Lein­wand, dann da­vor.

Jochen Sahr, Nihad Bakr, Barbara Entner und Anna Akobian stellten sich im »Babylon« den Zuschauern (Foto: Moritz Schulz)

Jo­chen Sahr, Ni­had Ba­kr, Bar­ba­ra Ent­ner und An­na Ako­bi­an stell­ten sich im »Ba­by­lon« den Zu­schau­ern (Fo­to: Mo­ritz Schulz)

Es sind zwei Din­ge, die die Ki­no­kar­te im Ba­by­lon an die­sem Abend er­zählt: Er­stens ei­ne Ge­schich­te von deut­schem Pa­pier­kram, denn man be­kommt sie, oh­ne da­für Ein­tritt zu zah­len. Zwei­tens der Hin­weis un­ter dem Ti­tel »Land in Sicht«: Freie Platz­wahl. Mit die­ser Kar­te be­ginnt im klei­nen Für­ther Ki­no ein Do­ku­men­tar­film­abend über Flücht­lin­ge, die nicht blei­ben konn­ten, wo sie leb­ten; die nach Zah­len und Ver­tei­lungs­quo­ten ir­gend­ei­ner Klein­stadt zu­ge­teilt wer­den und die dann das Wort »Re­si­denz­pflicht« ler­nen. Und mit der Zeit ver­su­chen, zu le­ben – nor­mal, in Deutsch­land. Mit er­staun­li­chem Witz und fei­ner Iro­nie er­zählt »Land in Sicht« aus dem oft­mals pa­ra­do­xen und öf­ter trau­rig ko­mi­schen Le­ben drei­er Asyl­be­wer­ber ir­gend­wo in Bran­den­burg. Das un­ter­schei­det den Film vom ty­pi­schen Bild­nis be­mit­lei­dens­wer­ter Tri­stesse.

Vom ty­pi­schen Ki­no­be­such hin­ge­gen un­ter­schei­det die­sen, dass nach dem Film das Licht an­geht und al­le sit­zen blei­ben. Denn das Be­son­de­re die­ses Abends liegt nicht in den Schick­sa­len des Je­me­ni­ten, des Ira­ners und des Ka­me­ru­n­ers in Bran­den­burg, es liegt in de­nen der zwei Flücht­lin­ge, die nun vor der Lein­wand ste­hen. An­na Ako­bi­ans Stim­me klingt lan­ge Zeit sehr fest, ge­fasst er­zählt die Ar­me­nie­rin von ih­rer Zwangs­hei­rat mit ei­nem Rus­sen, von se­xu­el­ler Ge­walt; sie sagt: »Ich ha­be kei­ne Lie­be ge­habt und ich ha­be kein Le­ben ge­habt.« Sie be­rich­tet von ei­nem Selbst­mord­ver­such, vom Er­wa­chen in der Kli­nik und muss zum ein­zi­gen Mal um Fas­sung rin­gen, als sie er­klärt, dass die Nach­richt von ih­rer Toch­ter ihr Le­ben ge­än­dert hat. Ako­bi­an flieht, heim­lich, und tauscht Russ­land ge­gen das Erst­auf­nah­me­la­ger Zirn­dorf. Mit ei­ner fal­schen Iden­ti­tät er­schleicht sie sich die Dul­dung, sie er­zählt von der Un­er­träg­lich­keit des Heim­li­chen bis zur Selbst­an­zei­ge. Sechs Jah­re war­tet sie am En­de auf ih­re An­er­ken­nung, heu­te hat sie drei Mi­ni­jobs. Und wie­der Freu­de am Le­ben.

Es ist die­se Mi­schung aus tra­gi­schen Bio­gra­fien und op­ti­mi­sti­scher Le­bens­kraft, die die­sen Abend viel­schich­tig und be­rüh­rend ma­chen. Ähn­lich er­staunt, was Ni­had Ba­kr er­zählt: Der jun­ge Kur­de aus Sy­ri­en er­lei­det die Wucht staat­li­cher Re­pres­si­on, als er sich po­li­tisch en­ga­giert, flieht über Land­mär­sche und mit Schlauch­boo­ten nach Deutsch­land und stu­diert dem­nächst So­zia­le Ar­beit an der evan­ge­li­schen Fach­hoch­schu­le Nürn­berg. »Eu­ro­pa ist ein Traum­land für je­den Jun­gen in Sy­ri­en«, be­rich­tet er. »Aber das ist nicht re­al. Es ist kein Traum­land.«

Die­se Rea­li­tät kennt Bar­ba­ra Ent­ner, Flücht­lings­be­ra­te­rin der Für­ther Ca­ri­tas, in- und aus­wen­dig. Zu­sam­men mit Jo­chen Sahr vom In­te­gra­ti­ons­bü­ro der Stadt Fürth er­gänzt sie die per­sön­li­che Be­rich­te mit Er­fah­run­gen aus der fach­li­chen Pra­xis und stellt sich den Fra­gen ei­nes Pu­bli­kums, das bei die­sem The­ma mil­de kö­chelt zwi­schen Fru­stra­ti­on und Un­ver­ständ­nis. Ge­füh­le, die der Be­rufs­all­tag schnell bei­sei­te drän­gen muss.

»Kom­men Sie gut nach Hau­se«, sagt Sahr am En­de noch zum Ab­schied. Und man nimmt es dann als Pri­vi­leg wahr, zu wis­sen, wo das ist: zu Hau­se.

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