Alles nur Theater?
22. Juni 2010 | von Andrea Himmelstoß | Kategorie: Der besondere BeitragAm Abend des 1. Februars 2010 standen auf der Bühne des Stadttheaters ehemalige Mitarbeiter von Primondo und Quelle. Für sie wurde die Bühne zu einem Raum, in dem nur ihre Erinnerungen und Gefühle, nur ihre Ängste und Hoffnungen von Bedeutung waren.
Noch ist der Vorhang geschlossen. Vor dem roten Samt steht ein einsamer Stapel Kataloge. Quelle-Kataloge. Denn um die Quelle geht es an diesem Montagabend im Stadttheater Fürth. Um die Quelle GmbH, um die Primondo GmbH und vor allem um die ehemaligen Mitarbeiter der insolventen Unternehmen. Etwa 4.000 Menschen haben ihren Arbeitsplatz verloren. Acht von ihnen wagen den Schritt auf die Bühne. Machen öffentlich, was sonst zwar immer ein Politikum ist, aber meist im Privaten ertragen wird – Arbeitslosigkeit und Ohnmacht.
Einen von den Katalogen würde die ältere Dame neben mir übrigens gern mit nach Hause nehmen. Als Souvenir. Nein, sie selbst sei nicht bei der Quelle gewesen. Aber schließlich sei ja die ganze Stadt betroffen. Deswegen erwarte sie auch, dass Fürths Oberbürgermeister an diesem Abend zu den Menschen spricht.
Der Vorhang geht auf. Kataloge – Souvenirs im Wortsinne – stehen stapelweise unter Hockern. Und in der Mitte der Karton mit dem blauen Quelle-Klebeband. Keiner der ehemaligen Quelle- und Primondo-Mitarbeiter muss selbst auf die Bühne treten. Wer möchte, kann seinen Text von einem professionellen Schauspieler vortragen lassen. Doch die meisten ergreifen selbst das Wort. »Manche haben erst im Laufe des ersten Gesprächs festgestellt, dass sie das selber machen wollen«, sagt Theaterpädagoge Johannes Beissel, der die Idee zu diesem Projekt hatte. Die Idee zu diesem Abend, der keine ideologische Stellungnahme sein soll, sondern ein Forum für die Menschen. »Dieser Abend ist eine der letzten Möglichkeiten zur Verarbeitung der Ereignisse, ein würdiger Rahmen für die Trauerarbeit. Das Projekt ist aber auch eine Gelegenheit, seinen Stolz zurückzubekommen.«
Als erster Quelle-Mitarbeiter tritt Josef Bößl auf die Bühne. Schauspieler Hannes Seebauer liest seine Erinnerungen an den Tag, an dem der Sachbearbeiter die Blumen neben der Auferstehungskirche in kräftigen Farben leuchten sah – bevor er damit konfrontiert wurde, dass er ab dem 1. November 2009 freigestellt sei. Freigestellt. Josef Bößl und Hannes Seebauer treten schließlich gemeinsam in den Hintergrund. Mit ruhiger Geste legt der Schauspieler dem Sachbearbeiter die Hand auf den Rücken. Und drückt damit vermutlich aus, was wohl auch die Dame neben mir mit ihrem Besuch des Theaterabends zum Ausdruck bringen möchte: Solidarität.
Für viele der Menschen, die an diesem Abend auf der Bühne stehen, war die Firma über lange Jahre ein wichtiger Teil ihres Lebens. Mit dem Verlust geht jeder auf seine Weise um. Winfried Lernet arbeitet mit Klangschalen, um die Veränderung in seinem Leben besser verarbeiten zu können. Lisa Hallmeier reagiert in ihrem Text mit bittersüßer Ironie. Sibylle Mantau setzt kraftvoll ein Quelle-Medley in Szene. In einer türkisfarbenen Kittelschürze tritt sie auf die Bühne und öffnet den Quelle-Karton. »Schuld war nur die Wirtschaftskrise«, singt sie in Anlehnung an den Bossa Nova, mit dunklem Binder schafft sie den Sprung in die Welt des Managements und kommt schließlich bei der braven Mitarbeiterin an, sie lässt zu Schunkelmusik die Managerriege Revue passieren, zitiert mit »Eine Insolvenz von Quelle wäre abwendbar gewesen« Thomas Middelhoff und endet mit »Eine neue Stelle ist wie ein neues Leben«.
Nein, sie wollen sich nicht unterkriegen lassen. Nach drei Wochen Probenarbeit waren sie soweit, ihre ehemalige Arbeitswelt und ihre Arbeitslosigkeit auf der Bühne zu thematisieren. »Sicher hat der Abend auch therapeutischen Wert. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Aber auch das Gefühl, gemeinsam stark für die Zukunft zu sein, ist wichtig«, stellt Johannes Beissel fest. Vor allem aber ging es den Teilnehmern darum, ihre Sicht der Dinge selbst darzustellen. Nicht immer nur zuhören zu müssen, wenn andere über das berichten, was sie erleben, das schafft Subjektivität. Und die war hier gefragt, ja sogar gewünscht. Denn ein Massenschicksal gibt es nicht, Arbeit für alle vermutlich ebenso wenig. Aber Menschen, die sich den Entscheidungen der Wirtschaftsmächtigen, deren Erfolgen und Misserfolgen oft ausgeliefert fühlen, wollen ihre Ohnmacht überwinden. Gehört zu werden, das wird in solch einer Situation zu einer Frage des Respekts. Und wer gehört werden wollte, der konnte den Abend mitgestalten, konnte sich nach einem Aufruf mit Handzetteln mit seiner eigenen Geschichte, mit seinen eigenen Texten melden und die Bühne erobern.
Monika Follmer hat das getan. Eindrucksvoll hat sie mit ihrem sanften Märchen »Das kleine Mädchen aus dem Banat« Emotionen und Verständnis geweckt. Das kleine Mädchen träumte im Banat von der Wunderwelt der bunten Waren, die es aus dem Quelle-Katalog kannte, der den weiten Weg zu ihr im Gefolge einer Tiefkühltruhe gefunden hatte. Die Tiefkühltruhe war das Geschenk eines Onkels aus Regensburg. Das kleine Mädchen kam als junge Frau in den goldenen Westen und arbeitete – weil Träume im Märchen ja manchmal wahr werden – 19 Jahre bei der Quelle. Von und für die Quelle hat sie gelebt. Und mit ihren Kollegen wie die Löwen darum gekämpft, dass es weitergeht. Um am Ende auf der Bühne des Fürther Stadttheaters zu sitzen und in einem Quelle-Katalog zu blättern.
Gekämpft hat auch Beatrix Zensner. Sie war Betriebsrätin, musste lernen, ihre Angst zu überwinden. »In den Nächten habe ich geheult und geschrien«, bekennt sie auf der Bühne. An der Ohnmacht und der Verantwortung wäre sie fast zugrunde gegangen. Von der Arbeitsagentur hat sie erfahren, dass ihr Verdienst als Callcenter-Mitarbeiterin 100 Euro unter der Armutsgrenze lag. Den Druck und die mangelnde Anerkennung dieser Zeit versucht sie nun mit therapeutischer Hilfe zu überwinden. Ihre Wut verrät ihre Energie. Energie, die nun in die Zerstörung der Kataloge auf der Bühne mündet. Jetzt bliebe ihr wohl kein Katalog mehr als Souvenir, konstatiert die Dame neben mir. Doch Dr. Thomas Jung, Oberbürgermeister von Fürth, erfüllt ihre Erwartung. Er tritt auf die Bühne, spricht gut und gibt den Menschen das Gefühl, heute gehört worden zu sein. Jetzt fehlen nur noch neue Jobs.
Andrea Himmelstoß ist Fachfrau in Sachen Marketing & Kommunikation. Sie arbeitet als Werbetexterin und freie Journalistin und betreibt »Das Texthaus« in der Fürther Waagstraße.
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