Liebe Autofahrer in der Amalienstraße
1. August 2010 | von Ralph Stenzel | Kategorie: VerkehrEine kleine Anmerkung vorweg: Die Amalienstraße steht hier nur exemplarisch für viele andere Straßen in Fürth. Ich habe sie nur ausgewählt, weil ich die im folgenden beschriebenen Erfahrungen täglich dort mache.
Es ist rührend, wie ihr um meine Verkehrssicherheit besorgt seid. Um mir mitzuteilen, dass ich als Radler in genannter Straße doch auf dem Radweg fahren möge, gebt ihr euch wirklich Mühe:
Ihr kurbelt die Scheibe runter, um mir im Vorüberfahren schnell ein »Radweg!« zuzuzischen. Während ihr mich überholt, reduziert ihr eure Geschwindigkeit und teilt mir ausführlich mit, dass ich doch auf den Streifen auf dem Gehweg wechseln sollte. Wenn eure Zeit ein Abbremsen nicht erlaubt, so zeigt ihr mir zumindest durch die Heckscheibe die richtige Spur an. Wenn ihr richtig viel Zeit habt (das kommt dann doch selten vor), so zieht ihr nach dem Überholvorgang schnell wieder rechts rüber und bremst, um eurem Hinweis auf mein Wohlergehen freundlich Nachdruck zu verleihen und mich zu einem sicherheitstechnisch notwendigen Funktionstest meiner Bremsen zu bringen.
Ich schätze das alles sehr, jedoch: Ich werde nicht auf euch hören, denn der auf dem Gehweg angedeutete Weg ist holprig, regelmäßig von Mülltonnen und parkenden Autos versperrt. An den Einmündungen muss man ständig bremsen oder anhalten, da sowohl von der als auch auf die Amalienstraße einbiegende Kfz meine Vorfahrt ignorieren. Und auch meine mitradelnden Mitbürger sind ein Problem, da viele von ihnen das in der StVo verankerte Rechtsfahrgebot schlichtweg missachten.
Aber der wichtigste Grund ist der folgende: Ich muss den Streifen nicht benutzen, ich darf auf der gut asphaltierten, unversperrten Fahrbahn fahren. Es gibt nämlich entlang der Amalienstraße keinen benutzungspflichtigen Radweg.
Blättern wir einmal ein wenig in der Geschichte der Radwegsbenutzungspflicht in Deutschland. Zur Einführung dieser Pflicht findet sich folgende Mitteilung der zuständigen Behörde:
»Zeigen wir dem staunenden Ausländer einen neuen Beweis für ein aufstrebendes Deutschland, in dem der Kraftfahrer nicht nur auf den Autobahnen, sondern auf allen Straßen durch den Radfahrer freie, sichere Bahn findet.«
Die hier genannten »staunenden Ausländer« waren die Besucher der Olympischen Spiele 1936, die mitteilende Behörde das Reichsverkehrsministerium. Pikant an der Mitteilung ist, dass offensichtlich nicht der Radfahrer vor dem Auto (welches zur damaligen Zeit schon beachtliches Gewicht und Geschwindigkeit erreicht hatte) geschützt werden muss. Vielmehr sah das Ministerium die Gefährdung als vom Radl ausgehend an.
Zweifelsohne gab es in der frühen Bundesrepublik um Größenordnungen schwerwiegendere juristische Altlasten des 3. Reiches, die aus den deutschen Gesetzbüchern getilgt werden mussten, und so überlebte diese Regelung, ohne jemals auf Sinnhaftigkeit überprüft worden zu sein, lange Zeit. Und in der Zwischenzeit setzte sich anscheinend die Meinung durch, dass durch die entsprechenden Regeln dann doch der Radfahrer vor dem Kfz geschützt wird, was zu guter letzt dann auch offizielle Lesart der zuständigen Behörden wurde. Erst in den 990er Jahren des letzten Jahrtausends wurde die Benutzungspflicht in Frage gestellt, nachdem viele Studien festgestellt hatten, dass die von ihr erhoffte Reduktion von Fahrradunfällen nicht existent war. Die Folge dessen war die sog. Radwegnovelle von 1997. In ihr wurden Normen für verschiedene Qualitätsmerkmale wie beispielsweise Mindestbreite und Beschaffenheit des Radweges festgelegt. Aber die wichtigste Änderung in dieser Novelle bestand im erstmals kodifizierten Sinn einer Radwegbenutzungspflicht: Prinzipiell haben auch Radfahrer die Fahrbahn zu benutzen.
Der zuständigen (i.A. kommunalen) Behörde wurde auferlegt, eine Radwegbenutzungspflicht »nur dort anzuordnen, wo das aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs (gemeint sind hier Radfahrer, Anm. d. Red.) dürfen nur angeordnet werden, wo aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt.«
Und damit sind wir wieder in der Amalienstraße angekommen: Diese Straße geht im großen und ganzen schnurgeradeaus, ist, trotz auf beiden Seiten parkender Autos, hinreichend breit, dass einander entgegenkommende Autos problemlos aneinander vorbeikommen und insgesamt gut einsehbar. Das ist wohl kaum eine durch »besondere örtliche Verhältnisse« bestehende »Gefahrenlage«. Dies hat anscheinend auch die Stadt Fürth so gesehen und die früher bestehende Radwegebenutzungspflicht aufgehoben. Und so hat sie auch in vielen anderen Straßen gehandelt und die runden, blauen Schilder, auf denen ein weißes Fahrrad zu sehen ist (und die allein eine Benutzungspflicht anzeigen), in großem Stile aus dem Stadtbild entfernt.
Liebe Autofahrer in der Amalienstraße: Ich möchte das gleiche wie Sie, nämlich zügig die Straße entlang fahren. Bitte gönnen Sie mir und den anderen Radfahren dies, zumal, seien wir mal ehrlich, die Verzögerung durch das Überholen eines Radfahrers im Sekundenbereich liegt.
Weitere Informationen bietet der Wikipedia-Artikel Radverkehrsanlage.
Wenn ich mir die Autos hier in in unmittelbarer Nachbarschaft zur Amalienstraße anschaue: Meine treue, alte Rennsemmel scheint mir das einzige Vehikel weit und breit zu sein, dessen Scheiben tatsächlich noch herunterkurbelbar sind. In all den anderen blechernen Bürgerkäfigen neuerer Genese wird allenfalls noch ein Finger gerührt, um das Glas zum Höhnen und Schimpfen herabzulassen...
Danke im Übrigen für die profunde verkehrsrechtliche Aufklärung, das Fehlen der Radwegschilder war mir tatsächlich bis dato noch nicht aufgefallen.
In der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung gab es gestern einen interessanten Artikel, über eben diese Problematik, die Radwegenovelle von 1997 und ein letzten Herbst ergangenes Urteil.
Pressespiegel: »Fürther Radwegebau auf Sparflamme« (FN)
Radwegbenutzungspflicht? Aber gerne!
Pressespiegel: »Fürther Radler im Aufwind« (FN)
Pressespiegel: »ADFC-Umfrage: Auch Fürth fällt bei Radlern durch« (FN)